Die Filmemacherin Chiara Fleischhacker erzählt in ihrem Debüt “VENA” von kaum bekannten Lebenswelten. Und wurde gleich doppelt mit dem First-Steps Award ausgezeichnet.
Ines Kappert: Der Film zeigt das Leben von Jenny, die schwanger ist und weiter Drogen nimmt, als wäre das total normal. Wie sind Sie zu dem Filmstoff gekommen?
Chiara Fleischhacker: Es ist nicht normal für Jenny. Sie ist suchtkrank und hat eine starke Bindungsstörung, von der auch die Bindung zu ihrem ungeborenen Kind betroffen ist. Diese entwickelt sich erst zögerlich und zeitgleich zu ihrem wachsenden Selbstwert und Entzug. Das ist ihre Lebenswirklichkeit, und nicht nur ihre. Die Figur der Jenny hat sich im Laufe meiner sehr langen Recherche zur Frage entwickelt: Warum müssen schwangere Frauen in Haft? Und unter welchen Bedingungen? Ich saß immer wieder im Gericht in Erfurt und habe mir Verhandlungen über Frauen angehört. Oft hat eine Drogenabhängigkeit dazu geführt, dass sie straffällig wurden. Hinzukommt, dass ich selbst eine Suchtvergangenheit im Bereich Essstörung habe und finde, dass Sucht als Thema noch immer nicht in seiner Wucht und Komplexität begriffen wird. So hat es sich ergeben, dass meine Hauptfigur schwanger und süchtig ist und ins Gefängnis muss.
“VENA” nimmt sich einer Fülle von Problemen an: JVA, Drogensucht, verlassene Kinder, Sozial- und Jugendamt, Armut, Überforderung… und ist trotzdem schon vor dem Kinostart ein Erfolg.
VENA hat ja mindestens zwei Ebenen: Die mit den schweren Themen, die vielleicht abschrecken, wenn man sie auflistet. Die zweite ist Jennys emotionale Entwicklung, wie sie ihr mangelndes Selbstwertgefühl nach und nach in Selbstakzeptanz verwandelt und eine Bindung zu ihrem Kind aufbaut. Diese Entwicklung von Selbstwert ist für mich ein universelles Thema, das vielen Zuschauer*innen erlaubt, sich mit Jenny zu identifizieren und auch von Zuversicht und Erstarken erzählt. Viele hat auch fasziniert, wie authentisch wir Mutterschaft und die Geburt zeigen.
Schwangeren in Haft wird nur selten eine würdige Geburt ermöglicht. Das ist eine einzige Abwärtsspirale.
Jenny schädigt mit ihrer Sucht ihr Baby, das wird klar gezeigt. Trotzdem mag man sie irgendwie.
Für uns war am wichtigsten, dass die Zuschauer*innen Jenny nahekommen können und sie nicht verurteilen. Wir wollten Jenny auf keinen Fall in die bekannte soziale Tristesse setzen. Sondern haben in der Bildgestaltung ihre Welt bereichert mit Farben, mit Details, mit Leidenschaften, die sie hat, mit Zärtlichkeiten, mit Kontrasten.
Es ist also die Komplexität von Jenny, die sie für die Zuschauer*innen nahbar macht?
Ja, das macht sie nahbar, aber auch interessant. Wir sind ganz dicht mit der Kamera an ihr dran. Sie ist in jeder Szene zu sehen. Wir folgen auch ihren kleinen Handlungen, etwa ihrer Liebe zu ihren Orchideen. Wir schneiden ganz viel auf Details, auch das ist Teil der Figurenentwicklung hin zur Komplexität. Die Zuschauer*innen können Jenny wirklich kennenlernen.
Dialoge sind nicht so wichtig?
Kino bedeutet, Charaktere und das eigentlich Gesagte über Bilder zu erzählen. Nicht über das Wort. Wobei Jenny sich immer mehr dahin entwickelt, für sich einzustehen und zu formulieren, was ihr wichtig ist. Zum Beispiel als sie zu ihrem Freund Bolle, der nochmal mit ihr schlafen möchte, nach dem zweiten Anlauf sagt: “Nein, ich hab kein Bock, hab ich gesagt.“ Er verschwindet daraufhin. In so vielen anderen Filmen werden die Frauen dann doch noch verführt und ihr Nein übergangen. Auch da merkt man bei uns, dass ein vorwiegend weibliches Team diese Hauptfigur erzählt.
Jenny entwickelt eine besondere Beziehung zur Familienhebamme Marla. Für mich ruht diese auf einer feministischen Solidarität auf. Dabei spielt Feminismus zwischen den beiden keine Rolle.
Unser ganzer Film ist im Kern feministisch, schon alleine wegen der Komplexität unserer Hauptfigur, wie wir sie wertschätzen, ihren Körper nicht sexualisiert darstellen und authentische Bilder von Schwangerschaft und Geburt zeigen. Solidarität unter Frauen gehört für mich dazu. Für mich ist Marla als Figur aber vor allem spannend, weil sie sich verleitet fühlt, professionelle Grenzen zu überschreiten. Einfach weil sie weiß, dass Jenny jetzt Wertschätzung von außen braucht und die Sicherheit, dass da jemand ist, der sie nicht verurteilt. Vielleicht werden die beiden auch zu Verbündeten, weil jede auf ihre Weise nicht die Anerkennung erhält, die sie verdienen würde. Hebammen leisten so unglaublich viel und kriegen so wenig ideelle und finanzielle Anerkennung dafür. Dennoch muss man sich insgesamt fragen, warum überschreiten so viele Menschen die professionellen Grenzen? Ist da zu viel Druck von Seiten des Systems?
Beide gehen ja auch über ihre Grenzen, damit Jenny die toxische, und doch auch liebevolle Beziehung zu Bolle verlassen kann. Ist Grenzüberschreitung ein wichtiger Baustein für feministische Solidarität?
Naja, die beiden müssen ja nur ihre Grenzen überschreiten, weil sonst niemand da ist. Eigentlich sollten Frauen ihre Grenzen ja viel besser setzen und wahren können und darin Solidarität mit anderen finden.
Was ich durch Ihren Film gelernt habe: Straffällige Schwangere haben kein Recht darauf, ihr Kind zu behalten, wenn es keinen Mutter-Kind-Platz im Gefängnis gibt. Wie haben Sie davon erfahren?
Als ich mit meiner Tochter schwanger war, schnitt ich gerade einen Dokumentarfilm zum Thema Strafe und Männerstrafvollzug. Und habe mich gefragt, wie ist das eigentlich für Schwangere? Ein Gefängnisarzt sagte zu mir, dass jede Schwangerschaft im Knast per se eine Risikoschwangerschaft ist, da der mentale Stress für die Gebärende so groß ist und dieser sich sofort auf das ungeborene Kind auswirkt. Dabei sollte doch klar sein, dass das Kind nicht die Schuld der Mutter mittragen darf. Die gesamte Situation schwangerer Inhaftierter ist so ungeregelt, wie man es sich kaum vorstellen kann. Jedes Bundesland agiert anders, und es wird nicht einheitlich erfasst, wie viele Trennungen stattfinden und wie viele Frauen schwanger in Haft sind.
Frauen werden in der Regel für minderschwere Verbrechen bestraft.
Warum wird der Strafantritt für Schwangere nicht aufgeschoben?
Das kommt auch vor. Doch im Falle von Hilly, meiner Rechercheperson, die ihren Sohn in Haft zur Welt gebracht hat, hatte sie ein Telefonat mit einer Bediensteten, die ihr riet, so früh wie möglich zu kommen, weil das die Chancen auf einen Mutter-Kind-Platz erhöhen würde. Letztlich unterliegt es immer der Einschätzung der verschiedenen Instanzen und den Richter*innen, die darüber entscheiden: Manche sehen die Problematik, andere nicht. Das führt noch zu viel würdeloseren Situationen, als wir sie in VENA zeigen. Den Entbindenden wird unter der Geburt so oft so wenig Respekt gezollt.
Wie wird die Kindsherausnahme nach der Geburt gerechtfertigt?
Mit Platzmangel, zu kurzer oder zu langer Haftlänge der Mutter, Krankheit des Kindes, Suchtproblematik der Mutter, Gefahr der Ordnung im Vollzug, mangelnden Deutschkenntnissen der Mutter, Abschiebe- oder U-Haft. Wobei es schon eine Instanz früher scheitern kann, wenn das Jugendamt die Kosten nicht übernimmt. Die Hürden, vor allem die bürokratischen, für einen Platz sind enorm. Das trifft auch Mütter, die sorgefähig sind. Noch skandalöser ist, dass Schwangere in U-Haft gar keinen Anspruch auf einen Mutter-Kind-Platz haben. Da also, wo die Schuld noch nicht festgestellt ist, werden Mütter von ihren Kindern getrennt. Das passiert immer wieder. Doch es wird nicht erfasst, das heißt, es gibt keine Datenlage dazu, wie viele Trennungen herbeigeführt werden.
Handelt es sich bei diesen Trennungen um Täter*innen mit schweren Verbrechen?
Frauen werden in der Regel für minderschwere Verbrechen bestraft, für Betrugsdelikte, Beschaffungskriminalität oder das Erschleichen von Leistungen. Nur sehr, sehr selten für schwere Verbrechen, wie Totschlag oder Mord. In diesem Fall findet eine gemeinsame Unterbringung nicht statt, weil eine Gefährdung des Kindeswohls angenommen wird und die Haftdauer zu lang ist, um sogenannte Prisionierungseffekte beim Kind zu vermeiden. Der Skandal aber ist, dass Schwangeren in Haft insgesamt nur selten eine würdige Geburt ermöglicht und damit nicht zugelassen wird, dass eine Bindung zwischen den Eltern und dem Kind aufgebaut werden kann. Das führt zu schweren Traumatisierungen der Mutter, aber auch des Kindes. Das ist eine einzige Abwärtsspirale.